Ein Mythos ist ein imaginäres Konstrukt, das kosmische, psychologische und soziale Phänomene erklären soll, ähnlich wie Götter, die eine Erklärung für bestimmte grundlegende Aspekte der Welt und der Gesellschaft, die sie geprägt hat oder vermittelt, anbieten.
Der Mythos (Plural: Mythen) wird ursprünglich von einer mündlichen Überlieferung getragen. Die irrealen Elemente, die für einen Mythos konstitutiv sind, begründen i.d.R. soziale Regeln, die auf den Grundwerten einer Gemeinschaft basiert, die ihren Zusammenhalt sucht.
Ein Mythos enthält häufig Konzepte in Form von "Bildern", die für die Menschen in der Gemeinschaft, in der der Mythos überliefert ist, sinnvoll und bedeutsam, lehrreich und belehrend sind. Die Gesamtheit der Mythen einer Kultur bildet eine Mythologie.
Definition
Der Mythos ist eine sakrale Erzählung, die „erklärt“: Mythen geben uns ein Gefühl dafür, wer wir sind, wie wir hierher gekommen sind und wie wir uns in eine Welt voller Gemeinschaften einfügen, die sich von der unseren unterscheiden.
Dabei berührt der Mythos Fragen und Probleme, denen die Menschheit schon immer begegnet ist. Dies mag erklären, warum Mythen aus weit voneinander entfernten Kulturen manchmal ähnliche Themen aufweisen. Mythen, die innerhalb einer Kultur als wichtig erachtet werden, leiten zu Fragen über die Geschichte, die Zukunft, die Bräuche und die Lebensweise dieser Kultur an. Darüber hinaus sollte der Gegenstand eines Mythos außergewöhnliche Merkmale aufweisen, wie z. B. das Auftreten von Figuren (Tiere, Menschen, Götter und andere Kreaturen) mit übermenschlichen Eigenschaften.
Anhand dieser Kriterien können die biblischen Geschichten über den Garten Eden und die Sintflut als Mythen betrachtet werden.
Etymologie
Das Wort „Mythos“ stammt aus dem Altgriechischen "mȳthos" was „Rede“, „Erzählung“ oder „Fiktion“ bedeutet. Das altgriechische Wort mythología ('Geschichte', 'Legende' oder 'Erzählung') wiederum verbindet das Wort mȳthos mit der Endung -λογία (-logia 'Studium'), so dass Platon "mythología" als allgemeinen Begriff für Fiktion oder Erzählungen jeglicher Art verwendete.
Das griechische Wort "mythos" bezieht sich ursprünglich auf das gesprochene Wort oder die Rede, bezeichnet aber später auch eine Erzählung, eine Geschichte oder einen Bericht.
Dieses Wort wurde im frühen 19. Jahrhundert in einem viel engeren Sinne in andere europäische Sprachen übernommen, als wissenschaftlicher Begriff für eine traditionelle Geschichte, insbesondere eine, die die frühe Geschichte eines Volkes betrifft oder ein natürliches oder soziales Phänomen erklärt und typischerweise übernatürliche Wesen oder Ereignisse einbezieht.
Abgrenzung
Ein Mythos unterscheidet sich von Volksmärchen und Legenden - auch wenn die Unterscheidung nicht immer eindeutig ist - dadurch, dass der Mythos zu erklären versucht, warum die Welt so ist, wie sie ist, während sich das Volksmärchen eher auf soziale Konflikte konzentriert. Mythen finden sich in einfachen Jäger- und Sammlergesellschaften (zum Beispiel in der frühen Gottheiten der nordischen Völker) und in frühen organisierten Gesellschaften mit einem privilegierten Klerus, während Volksmärchen in viel einfacheren Agrargesellschaften vorkommen. Legenden hingegen beruhen auf vermeintlich historischen Figuren oder Ereignissen und haben Themen oder andere Elemente aus älteren Mythen übernommen.
Das Mysterienspiel (von altgriechisch mysterion, Geheimnis) ist eine seit dem Altertum praktizierte Form der Darstellung von religiösen Glaubensinhalten. Im Alten Ägypten sind bereits die Osiris-Mysterien belegt. Im 14. Jahrhundert hatten Formen des Dramas und Musiktheaters christlich-religiöse Motive. Im Mittelpunkt der mittelalterlichen Mysterienspiele stand die Darstellung biblischer Geschichten in Kirchen in Form von Tafelbildern mit begleitendem antiphonalen Gesang.
Das Wort Mysterium (ebenfalls von altgriechisch mystérion, volkstümlich auch abgeleitet von myo, ‚den Mund schließen‘) wird gewöhnlich mit ‚Geheimnis‘ übersetzt. Ursprünglich wurden damit kultische Feiern mit einem geheim bleibenden Kern bezeichnet, an denen nur Eingeweihte teilnehmen durften.
In der Religion war damit das Geheimnis des Glaubens, insbesondere die Sakramente gemeint. Heute bezeichnet Mysterium einen Sachverhalt, welcher sich der eindeutigen Aussagbarkeit und Erklärbarkeit prinzipiell entzieht - nicht nur einfach eine nur schwer Mitteilbare oder (zufällig) verschwiegene Information.
Funktionen
Mythen haben mehrere Funktionen, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Sie schaffen beispielsweise Verhaltensmodelle, indem Götter Gebote und Verbote festlegen und Helden bestimmte Tugenden propagieren. Die Funktion (Bedeutung) ist ganz besonders eklatant in der griechischen Mythologie vorzufinden. Mythen können auch aktiv in einem religiösen, rituellen Kontext genutzt werden. Ein Beispiel dafür ist das babylonische Neujahrsfest, bei dem die Priester das "Enūma eliš" rezitierten. Die Funktion des Mythos bestand hier weniger in der Vermittlung von Wissen als vielmehr in der Aufforderung zu Handlungen, die die Existenz der Gemeinschaft sichern konnten. Darüber hinaus zielen Mythen darauf ab, die Welt oder Elemente davon zu erklären oder soziale Tatsachen (z. B. Institutionen) zu rechtfertigen.
Mythen werden häufig von weltlichen und religiösen Autoritäten bestätigt (zum Beispiel sehr prominent in der ägyptischen Mythologie) und sind eng mit Religion oder Spiritualität verbunden. Viele Gesellschaften fassen ihre Mythen, Legenden und Geschichte zusammen und betrachten Mythen und Legenden als faktische Berichte über ihre ferne Vergangenheit.
Insbesondere Schöpfungsmythen spielen in einer "Urzeit" (siehe Chaos), in der die Welt noch nicht ihre spätere Form erreicht hatte. Gründungsmythen erklären, wie die Bräuche, Institutionen und Tabus einer Gesellschaft entstanden und geheiligt wurden. Nationale Mythen sind Erzählungen über die Vergangenheit einer Nation, die die Werte der Nation symbolisieren. Es besteht eine komplexe Beziehung zwischen der Aufzählung von Mythen und der Durchführung von Ritualen.
In Yuval Noah Hararis Buch "Sapiens: Eine kleine Geschichte der Menschheit" steht die Funktion des „Mythos“ im Mittelpunkt, und zwar ausschließlich als gesellschaftlich verbindliche Erzählung. Dies steht im Gegensatz zum „Mythos“ als ehrwürdige Weisheit, etwas Endgültiges und Wunderbares, aber der „Mythos“ ist ein Trugschluss: eine Illusion, die es zu durchbrechen gilt. Die Funktion des Mythos als Erzählung wird dann zu einer Warnung vor einer dystopischen Zukunft, in der künstliche Intelligenz und Algorithmen die Welt beherrschen.
Andererseits entstehen aber auch funktionale neue, selbst erfundene religiöse Mythen wie in Hans Jonas' Buch "Das Prinzip Verantwortung", um eine neue Ethik für eine technologische Gesellschaft zu entwickeln. Das führt dann zu einem neuen kategorischen Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deines Handelns mit der immerwährenden Präsenz echten menschlichen Lebens auf der Erde vereinbar sind.“